Sherlock-Spurensuche vs. Tetzel-Trickserei

Wie Wissenschaft missbraucht wird für schlechte Politik


Change = Veränderung = heilige Kühe reduzieren

Die Erleuchtung beim Kaffee mit dem Pastor

Ich war einmal ein paar Jahre lang befreundet mit einem evangelischen Pastor. Eine faszinierende Freundschaft – wir diskutierten über alles: das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Dabei erfuhr ich auch viel über die inneren Spielregeln der Kirche als Organisation.

Eines Tages erzählte mir mein Freund von seiner theologischen Ausbildung und brachte einen Begriff ins Spiel, der mein Weltbild auf den Kopf stellte: Exegese.

"Wie funktioniert das denn?", fragte ich neugierig.

"Ganz einfach", erklärte er mit einem schelmischen Lächeln. "Du bekommst einen Bibeltext und sollst ihn interpretieren, damit er Bezug zum Alltagsleben hat. Aber – und das ist der Clou – gleichzeitig mit dem Text bekommst du auch das Ergebnis geliefert, das gefälligst dabei herauskommen soll."

Mir fiel fast die Kaffeetasse aus der Hand. "Das heißt, das Ergebnis steht von Anfang an fest?"

"Genau! Du musst nur noch die passenden Worte dafür finden."

In diesem Moment wurde mir klar: Exegese ist das genaue Gegenteil von wissenschaftlicher Forschung.

Sherlock Holmes trifft auf Johann Tetzel

Bei echter wissenschaftlicher Forschung gehst du wie Sherlock Holmes vor: Du stellst ein Phänomen fest, stellst dir eine Frage, sammelst Indizien und Fakten, fügst sie wie Puzzleteile zusammen – und erst am Ende siehst du das vollständige Bild. Manchmal ist das Ergebnis wie erwartet, manchmal völlig überraschend. Das ist das Spannende daran: die Sherlock-Spurensuche.

Die Exegese dagegen funktioniert wie Johann Tetzel, der berüchtigte Ablassprediger aus dem 16. Jahrhundert. Dieser Dominikanermönch hatte schon die "Lösung" parat, bevor er überhaupt die Bibel aufschlug: "Zahlen Sie, und Sie sind erlöst!" Egal welche Sünde, egal welche Bibelstelle – Tetzel bog sich alles so zurecht, dass am Ende das gewünschte Ergebnis herauskam. Pure Tetzel-Trickserei.

Wenn Politik Wissenschaft spielt

Nun könnte man denken: "Na gut, das war halt damals in der Kirche so." Aber hier wird es interessant – und beunruhigend.

In den letzten Jahren versucht die Politik zunehmend, ihre Entscheidungen wissenschaftlich zu begründen. An sich eine fantastische Entwicklung! Wäre da nicht ein kleines Problem: Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich vieles von dem, was als "Wissenschaft" verkauft wird, als verkappte Exegese.

Ob Pandemie-Politik, Klimaschutz mit Zwangsabgaben oder Sozial- und Steuerpolitik – fast immer stoße ich auf Quellen, die keine ergebnisoffene Forschung darstellen, sondern moderne Tetzel-Trickserei.

Die Anatomie der Tetzel-Trickserei 2.0

Variante 1: Die gekaufte Wahrheit Man finanziert die Forscher, die das Phänomen untersuchen sollen. Wirtschaftliche Abhängigkeit + menschliche Psychologie = vorhersagbares Ergebnis. Wissenschaftler, die auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind, werden erstaunlich kreativ dabei, genau das zu finden, was der Geldgeber hören will. Selbst Behörden, die einem Ministerium unterstellt sind, werden auf miraculeuse Weise immer zu Ergebnissen kommen, die die Ministeriumslinie stützen.

Variante 2: Die Zusammenfassungs-Falle Zum Glück sind nicht alle Wissenschaftler bestechlich. Also eine andere Strategie: Man stellt ein Gremium unabhängiger Forscher zusammen, die tatsächlich ergebnisoffen arbeiten. Deren Dokumentation ist natürlich viel zu lang und komplex für normale politische Entscheider.

Also wird eine "Management Summary" fabriziert – von jemandem, der wiederum von der Politik bezahlt wird und eine ganz bestimmte Agenda verfolgt. Diese Person wird die Zusammenfassung so schreiben, dass genau die gewünschte politische Entscheidung nahegelegt wird.

Voilà! Selbst bei unbestechlichen, ergebnisoffenen Wissenschaftlern haben wir am Ende eine politische Entscheidungsgrundlage mit vorher definiertem Resultat.

Der psychologische Mechanismus dahinter

Als Psychologe fasziniert mich der Mechanismus dahinter. Menschen haben eine natürliche Neigung zur Bestätigungsverzerrung (Confirmation Bias). Wir suchen bevorzugt nach Informationen, die unsere bereits bestehenden Überzeugungen stützen, und ignorieren widersprechende Evidenz.

Tetzel kannte diesen Mechanismus schon vor 500 Jahren – nur nannte er ihn nicht so. Er wusste: Menschen kaufen lieber eine einfache Lösung als eine komplizierte Wahrheit.

Moderne Politik-Berater haben dieses Prinzip perfektioniert. Sie liefern nicht die Wahrheit, sondern das, was der Auftraggeber hören will – wissenschaftlich verpackt und mit Statistiken garniert.

Warum das gefährlich ist

Das Problem ist nicht nur akademischer Natur. Wenn wichtige strategische und politische Entscheidungen auf Tetzel-Trickserei basieren statt auf Sherlock-Spurensuche, dann treffen wir Entscheidungen auf der Basis von Wunschdenken statt Realität.

Die Folgen? Milliardenausgaben für ineffektive Programme. Gesetze, die das Gegenteil von dem bewirken, was sie sollen. Und eine zunehmend skeptische Bevölkerung, die das Vertrauen in "die Wissenschaft" verliert.

Dabei ist das Problem nicht die Wissenschaft – sondern ihr Missbrauch.

Was wir brauchen: Mehr Holmes, weniger Tetzel

Die Lösung ist eigentlich einfach: Wir brauchen mehr ergebnisoffene Forschung im Sinne der Sherlock-Spurensuche und weniger Tetzel-Trickserei.

Konkret bedeutet das:

  • Echte Unabhängigkeit: Forscher sollten nicht vom Ergebnis ihrer Studien wirtschaftlich abhängen
  • Transparente Methodik: Wie wurde geforscht? Wer hat bezahlt? Welche Daten wurden ausgelassen?
  • Contradictory Evidence: Welche Studien kommen zu anderen Ergebnissen?
  • Kluge Entscheider: Politiker, die nur ergebnisoffene Analysen als Grundlage ihrer Entscheidungen akzeptieren

Fazit: Zeit für eine Reformation

Johann Tetzel löste damals ungewollt die Reformation aus – seine Ablasspredigten brachten Luther dazu, seine berühmten 95 Thesen zu verfassen.

Vielleicht ist es Zeit für eine neue Reformation: eine Reformation der wissenschaftlichen Redlichkeit in der Politik.

Wir brauchen keine Tetzels mehr. Wir brauchen Menschen, die an Wahrheitsfindung interessiert sind. Und wir brauchen Entscheider, die den Mut haben, ihre Entscheidungen auf echte Fakten zu stützen – auch wenn diese unbequem sind.

Denn am Ende ist die Wahrheit wie ein guter Detektivroman: Sie mag kompliziert und manchmal überraschend sein, aber sie ist immer spannender als eine vorgestanzte Lösung.

In diesem Sinne: Elementary, my dear Watson!

Dr. Stephan Meyer ist Psychologe, Keynote-Redner und Experte für Veränderung und Fortschritt. Als «Doctor Change» unterstützt er Entscheider dabei, komplexe Herausforderungen mit wissenschaftlicher Klarheit anzugehen.