Das Pharisäer-Paradox: Wenn Regelmacher zu Regelbrechern werden

Oder: Warum manche Menschen glauben, ihre eigenen Verbote gelten nur für andere

Change = Veränderung = heilige Kühe reduzieren

Das Pharisäer-Paradox: Wenn Regelmacher zu Regelbrechern werden

Oder: Warum manche Menschen glauben, ihre eigenen Verbote gelten nur für andere

Der Moment der Wahrheit

Stell dir vor: Du scrollst durch Instagram und siehst den Post vom Vorstand deines Berufsverbands. Derselbe Typ, der letzte Woche noch leidenschaftlich für das Flugverbot aller Mitglieder plädiert hat („Wir müssen Verantwortung übernehmen!"), postet gerade ein Selfie aus dem Businessclass-Sessel auf dem Weg nach Mallorca. Hashtag: #YoloLife #Deserved

Herzlichen Glückwunsch! Du hast gerade das Pharisäer-Paradox live erlebt.

Was zum Teufel ist das Pharisäer-Paradox?

Das Pharisäer-Paradox beschreibt den faszinierenden psychologischen Effekt, bei dem Menschen Regeln für andere aufstellen, sich selbst aber stillschweigend davon ausnehmen. Benannt nach jenen biblischen Gestalten, die Wasser predigten, aber heimlich die besten Weine der Stadt genossen.

Es ist der Politiker, der Gesetze gegen Diebstahl und Bereicherung erlässt, sich aber selbst laufend am Eigentum anderer bereichert. Es ist der Vereinsvorstand, der beschließt, dass alle Mitglieder aus Klimaschutzgründen nicht mehr fliegen sollen, dann aber selbst in den Urlaub fliegt und das fröhlich auf Social Media postet. Es ist der CEO, der Kosteneinsparungen predigt, während er sich den dritten Firmenwagen bestellt. Es ist dein Nachbar, der über Ruhestörung schimpft und dann um 6 Uhr morgens den Rasenmäher anwirft.

Die Anatomie des Paradoxes

Das Pharisäer-Paradox funktioniert nach einem simplen, aber genialen Drei-Stufen-Modell:

Stufe 1: Die moralische Überlegenheit „Ich erkenne das Problem und handle verantwortungsvoll!" (Applaus, Applaus)

Stufe 2: Die Regel für die anderen „Alle müssen jetzt verzichten/sich einschränken/leiden – zum Wohle der Allgemeinheit!"

Stufe 3: Die stille Ausnahme „Aber ich bin ja anders. Ich habe es verdient/bin wichtig/kenne die Umstände/bin eine Ausnahme."

Warum wir alle kleine Pharisäer sind

Bevor du jetzt empört mit dem Finger zeigst: Wir alle kennen dieses Paradox. Aus der Ich-Perspektive.

Du erzählst deinen Kindern stundenlang, dass Bildschirmzeit schlecht ist, während du heimlich um Mitternacht noch „nur kurz" durch TikTok scrollst. Du predigst Work-Life-Balance und antwortest dann doch um 23:47 Uhr auf E-Mails. Du verurteilst Fast Food und bestellst trotzdem bei pizza.de, wenn keiner hinsieht.

Der Unterschied? Die meisten von uns machen es nicht öffentlich. Und schon gar nicht mit einem selbstgerechten Facebook-Post.

Die drei Superkräfte des Pharisäer-Paradoxes

1. Die Unsichtbarkeits-Superpower

„Was ich tue, sieht keiner." Spoiler: In Zeiten von Smartphones und sozialen Medien sieht JEDER alles. Always.

2. Die Rechtfertigungs-Superpower

„Meine Situation ist speziell." Jeder hat „spezielle Umstände". Immer. Das ist wie Horoscope – so allgemein formuliert, dass es auf jeden passt.

3. Die Vergesslichkeits-Superpower

„Habe ich das gesagt? Ach so, das war was anderes gemeint." Praktisch, wenn das Gedächtnis nur in eine Richtung funktioniert.

Das Pharisäer-Paradox im Management

In Unternehmen erreicht das Pharisäer-Paradox olympische Dimensionen:

  • Der Vorstand predigt „Wir sind alle eine Familie" und kürzt gleichzeitig Weihnachtsgeld
  • HR fordert „authentische Kommunikation" und verschickt vorgefertigte Corporate-Speak-E-Mails
  • Das Management ruft zu „agilem Arbeiten" auf und braucht vier Meetings, um einen Termin zu verschieben

Besonders pikant wird es bei Change-Initiativen: „Wir müssen alle flexibler werden!" – verkündet vom Typ, der seit 20 Jahren denselben Parkplatz hat und ausrastet, wenn jemand anders dort steht.

Die Kosten des Paradoxes

Das Pharisäer-Paradox ist nicht nur peinlich – es ist toxisch. Es vergiftet Vertrauen schneller als abgelaufene Milch und zerstört Glaubwürdigkeit nachhaltiger als ein Shitstorm auf Twitter.

Mitarbeiter entwickeln eine Art „Pharisäer-Radar". Sie lernen zwischen offiziellen Ankündigungen und tatsächlichem Verhalten zu unterscheiden. Das Ergebnis? Zynismus, innere Kündigung und die berühmte „Das-machen-wir-nur-pro-forma"-Mentalität.

Der Ausweg aus dem Paradox

Die gute Nachricht: Das Pharisäer-Paradox ist heilbar. Die schlechte Nachricht: Es erfordert das Schwierigste überhaupt – Selbstreflexion.

Schritt 1: Der Spiegel-Test Bevor du das nächste Mal eine Regel aufstellst, frag dich: „Würde ich mich selbst daran halten? Auch wenn keiner hinsieht?"

Schritt 2: Die Öffentlichkeits-Probe Stell dir vor, deine Regel und dein Verhalten stehen morgen auf der Titelseite. Immer noch comfortable?

Schritt 3: Die Ehrlichkeits-Offensive Falls du erwischt wirst (und du wirst erwischt werden): Zugeben, entschuldigen, ändern. In dieser Reihenfolge. Ohne „aber" oder „eigentlich".

Das Ende der Pharisäer-Ära

In einer Welt voller Smartphones, sozialer Medien und allgegenwärtiger Transparenz wird das Pharisäer-Paradox zum Karriere-Killer. Die Menschen haben genug von doppelten Standards und durchschauen Heuchelei schneller als früher.

Die Zukunft gehört den authentischen Führungspersönlichkeiten – jenen, die ihre eigenen Regeln befolgen. Nicht perfekt, aber ehrlich. Nicht fehlerfrei, aber integer.

Also: Bevor du das nächste Mal eine Regel aufstellst, denk an das Pharisäer-Paradox. Und daran, dass dein Instagram-Account öffentlich ist. Vielleicht solltest du öfter mal auf das Aufstellen neuer Regeln verzichten.

Deine Reputation wird es dir danken.

Dr. Stephan Meyer ist Change Management Experte und hat das Pharisäer-Paradox in über 200 Organisationen beobachtet – meistens bei sich selbst.